December 21, 2021

Essay: Der Weg ist das Ziel

Dieser Satz „Der Weg ist das Ziel“ schien mir selbst, als er mir begegnete, erst als ein Widerspruch in sich. Und im Versuch mit anderen darüber zu sprechen, begegnete mir oft die Aussage „das sei esoterischer Quatsch“. Mich hat der Satz weiter beschäftigt und die Antworten mich nicht befriedigt. Ich glaube heute zu wissen, dass es eine der wichtigsten Aussagen ist, und dass alles Gerede über prozessuales Denken und Achtsamkeit nichtsnutzig ist, wenn wir diese Grundwahrheit „der Weg ist das Ziel“ nicht ernst nehmen. Jeder wird da seine Beobachtungsfelder haben, an denen er das erleben kann. Ich will einige meiner Beobachtungsfelder anführen, die das verdeutlichen können.

Zuvor möchte ich noch auf einen zweiten Satz hinweisen, der mir sprachlich wie inhaltlich sehr gefallen, und mich damit auch beschäftigt hat. Der Philosoph Sloterdijk sagte in einer Podiumsdiskussion: „Es ist die Massenfrivolität unserer Zeit, ankommen zu wollen, ohne den Weg gegangen zu sein“. Dafür hatte er vier Beispiele gebracht, welche die Berechtigung dieses Satzes bezeugten. Für mich ist deutlich geworden, dass dieser Satz gewissermaßen das Gegenstück des Satzes „der Weg ist das Ziel“ ist.

Wir stehen heute an einem Punkt, wo viele - so auch ich - den Niedergang unserer Kultur wahrnehmen und bedauern. Wir fragen uns, woher das so plötzlich uns augenfällig wird. Ist es, weil wir nicht prozessual gedacht haben und nicht achtsam waren, achtsam auf den Weg. Ich selbst habe mich immer bemüht, aus Ideen heraus zu gestalten. Beeindruckt und bestärkt hat mich der Brief Schillers an Humboldt, noch vier Wochen vor seinem Tod, indem er sagte: „Wir würden uns doch schämen, wenn wir uns nachsagen lassen müssten, dass die Welt uns und nicht wir die Welt prägen“. Deshalb habe ich viel mit Leitbildern und Zielen gearbeitet und allzu oft ansehen müssen, dass das Leitbild nicht so gewirkt hat, wenn ich auf das Gewordene schaute und mir eingestehen musste, dass ich mein Ziel verfehlt hatte. Es ist die Gefahr, dass wir zu sehr auf das Wunsch-Ende uns konzentrieren und dabei die Kraft des Wirkens zu wenig beobachten. Von Professor Gerald Hüter kann man viel lernen. Für mich war hilfreich, dass er den Begriff des „Anliegens“ eingeführt hat anstelle des Zieles oder Leitbildes. Denn das Anliegen drückt schon aus, dass es etwas Dauerhaftes ist, eine kontinuierliche Kraft, die Wirklichkeit gestaltet, viel mehr als ein Ideal. Das Ideal muss zum Anliegen werden, das heißt, das Ziel muss Weg werden. Und andererseits kann ich sagen, wenn ich auf den Weg schaue, dann weiß ich auch, wo ich rauskommen werde. Dazu ist es notwendig, dass ich mir von den Kräften, die wirken einen Begriff mache. Das wäre prozessuales Denken, dass ich die Kräfte, die wirken bezeichnen kann und beobachten kann. Beobachten und erinnern setzt immer voraus, da es in der Zeit geschieht, in der meine Wahrnehmung sich leicht mitverschieben kann, dass ich mir vom jeweiligen Stand einen Begriff machen muss und ihn so einpräge oder aufschreibe, dass ich mir Veränderung konkret bewusst machen kann. Das habe ich stets bei den Sommeliers bewundert, dass sie sich an den Geschmack eines Weines eines bestimmten Jahrgangs und Ortes so erinnern können, dass sie diese miteinander vergleichen und unterscheiden können. Die Sprache, die sie dabei entwickelt haben, erscheint uns kurios. Aber sie ist Voraussetzung für dieses Erinnerungs- und Vergleichsvermögen. Ich glaube, dass wir in gewisser Weise eine Art Tagebuch brauchen oder ein sehr gutes zeitgetreues Gedächtnis, um Entwicklungen in ihrer Wirkung mit Blick auf die Vergangenheit heraufzuarbeiten und mit Blick auf die Zukunft vorauszusehen.

Ich bringe ein paar Beispiele, wo wir die Veränderung, die wir heute bedauern und welche wir vielleicht als Niedergang unserer Kultur betrachten, hätten wahrnehmen können, wenn wir auf den Weg achtsam gewesen wären. Wir würden doch auch heute, wenn wir rein räumlich uns die Frage stellen, „wo wird der Mensch ankommen?“, uns die Frage beantworten „auf welchem Weg geht er?“. Und insofern wird der Weg, auf dem er geht, das tatsächliche Ziel bestimmen, nicht aber das Wunschziel erreichen lassen. Da mag er ein noch so schönes Ziel vor Augen haben, wenn er den entsprechenden Weg nicht wählt, wird dessen Ende nicht sein Wunschziel sein.

Nehmen wir einmal eine Entwicklung, die Entwicklung, die ich besonders bedauere, der politischen Diskussion und Auseinandersetzung. Ich erinnere mich noch an den politischen Frühschoppen (man kann so etwas ja interessehalber heute noch einmal hochholen und sich anhören, um den Unterschied zu entsprechenden Veranstaltungen heute zu bemerken). Da saßen Menschen, die versucht haben, die verschiedenen Meinungen und Ansichten zueinander zu bringen und im Voneinander Lernen ein Gesamtbild zu zeichnen. Das ist ersetzt worden durch Talkshows. Manchmal muss man auch das Wort, mit dem etwas bezeichnet wird, ernst nehmen. Und das ehrlichste an den Talkshows ist vielleicht sein Begriff, der nichts anderes erwarten lässt, als das uns vorgefertigte Meinungen theatralisch vorgesetzt und gegeneinandergehetzt werden und Emotionalität dabei einen viel größerer Anteil hat als Wahrheitssuche. Dazu kommt ein Talkmaster, der sich mit seiner Meinung selbst inszeniert und entsprechend manipuliert. Das Ergebnis mag unterhaltsam sein, wertvoll im Sinne von erkenntnisschaffend ist es in den seltensten Fällen.

In meiner Rolle als Unternehmer habe ich oft erlebt, dass im Unternehmen die Kundschaft oder die Mitarbeiterschaft kritisiert wurde. Ich habe oft den Satz entgegengehalten, „Jeder hat die Kunden oder die Mitarbeiter, die er verdient“. Wenn ich in meiner Werbung den Preis vielmal größer schreibe, als die Bezeichnung dessen was ich anbiete, dann darf ich mich nicht wundern, wenn die Menschen zu Schnäppchenjägern werden. Ich versuche ihnen doch zu zeigen, was das wichtige ist: nicht das Produkt, sondern dessen Preis. Das ist ein kleines Beispiel, aber so gibt es viele Verhaltensweisen deren wirkende Kraft wir nicht betrachten. Wenn wir uns nicht mehr mit dem Sport in unserer Gemeinde oder in unserem Unternehmen oder in unserer Schule, auch bewundernd, beschäftigen, wird das Interesse daran abnehmen. Wir hatten früher in Deutschland fast in jedem Ort und in jedem Unternehmen eine Fußballmannschaft. Dieser Breitensport hat dazu geführt, dass wir eine Fußballnation geworden sind, nicht das Einkaufen von Spitzenspielern in der ganzen Welt. Und so wie wir nur noch für Spitzenspiele Interesse haben, wird sich auch nur noch das Entwickeln wofür wir Interesse haben, und nicht der Breitensport. Als die Jugend in Deutschland begeistert war von Tennis und viele angefangen haben Tennis zu spielen, da war Deutschland auf einmal an der Spitze in diesem Sport. Die Bedeutung des Tennis als Breitensport ist zurückgegangen und damit auch unsere internationale Präsenz. Das ist Wirklichkeit. Wir nehmen das Wort Wirklichkeit oft für das Gewordene. Und das ist ein großer Fehler. Wirklichkeit bezeichnet die Kraft, mit der etwas werden kann und nicht das Endergebnis.

Ich will einen Blick auf unsere Demokratieentwicklung werfen. Dass etwas nicht mehr stimmt mit dem Zustand der Demokratie, kann man auch daran erleben, dass es Veränderungsbedürfnisse von allen Seiten gibt, zum Beispiel auch noch in Form der direkten Demokratie. Da ich etwa ein Jahr vor Kriegsende geboren bin, kann ich auf eine lange Entwicklung der politischen Umgangsformen zurückschauen und erinnere mich daran, dass Parlamentarier diejenigen wurden, die sich durch gutes Verhalten oder besondere Erfolge dazu qualifizierten. Sie haben in der Regel neben ihrer politischen Arbeit ihren Beruf weitergeführt, wenn auch reduziert und dafür einen Ausgleich als Diäten bekommen. Es kam die Zeit, wo die meisten Parlamentarier aus Berufen kamen, in denen das Gehalt weiterlaufen konnte, obwohl sie nicht mehr im Dienst tätig waren und die Diäten ein zusätzliches Einkommen für die Belastung darstellten. Heute wachsen die Parlamentarier auf im Schatten der Parteiorganisationen und sind als Berufspolitiker von Anfang an daran gewöhnt, dass ihr Einkommen abhängig davon ist, wie sie der Partei dienen, die ja entscheidet, ob und an welcher Stelle sie auf der Liste stehen. Auch die Direktmandate sind meist parteilich eingeordnet, weil ohne die Partei die medialen und finanziellen Voraussetzungen nicht gegeben sind, die einen Erfolg möglich machen. So sind allmählich Volksvertreter zu Parteienvertretern geworden und um ganz sicher zu sein, dass sie nicht aus dem Ruder laufen, ist da dann noch der Fraktionszwang eingeführt worden, erstmals bei der Begründung der neuen Bundeswehr aus politischem Kalkül und dann immer alltäglicher. Schließlich sind wir auf diesem Weg da angekommen, dass das Parlament nicht mehr die Gesetze macht, sondern Beratungsunternehmen, und selbst Parlamentarier und um wie viel weniger die Menschen, für die die Gesetze gemacht werden, in der Lage sind, alles was da produziert wird, verstehend zu lesen. Und wenn einmal der Fraktionszwang aufgehoben wurde, dann war davon auch Aufhebens gemacht worden und die Ergebnisse zeigten, dass sie überraschend sein können im Verhältnis zum Willen der Partei. Gestaltungsentscheidungen werden heute unter den Fraktionsvorsitzenden mit den Parteivorsitzenden ausgehandelt und zunehmend wird, was wir als Parlamentarismus erleben dürfen, zu einem kräftigen Theater. Es geht so weit, dass wo Lesung vorgeschrieben ist, aus Zeitgründen nicht mehr gelesen wird im Parlament, sondern nur noch abgestimmt wird, was vorher manchmal schon protokolliert wurde. So ist es in Deutschland von einer guten Demokratie zu einer Scheindemokratie gekommen, was wir nicht gemerkt haben, weil wir nicht auf den Weg geschaut haben, nicht achtsam waren, was sich da entwickelt hat und jetzt, wo es ernst wird, erschrocken darauf schauen, wie wir behandelt werden, wie mit uns umgegangen wird.

Ich nehme ein anderes Beispiel: „Made in Germany“ war anerkannt und hat uns stolz gemacht und war kein Geschenk, sondern ein Ergebnis unseres Weges als fleißige, lernwillige Menschen. Dann haben wir begonnen den Freitag zu einem Samstag zu machen und den Samstag zu einem verkaufsoffenen Sonntag. Das ist der Weg. Wir merken langsam, dass dieser Weg zu einem anderen Ergebnis führt, in Bezug auf die Qualität „Made in Germany“. Hätten wir den Weg als Wirklichkeit und Wirksamkeit anerkannt, hätten wir wissen können, dass wir wo anders ankommen, als wir glauben wollen. Der Weg ist eben das Ziel. Und ankommen zu wollen, ohne den dazu notwendigen Weg gehen zu wollen, lässt uns über den Begriff der Wirklichkeit nachdenken.

Und wenn wir jetzt uns ganz besonders mit dem Begriff der Gesundheit beschäftigen und wenn wir unsere Bemühungen um Gesundheit darauf reduzieren, dass wir jemand anderem die Verantwortung dafür geben, und auf eine Spritze dabei vertrauen, deren Wirksamkeit nur kurz und vielleicht auch nicht ausreichend erforscht ist, dann ist das, was wir erreichen werden, ein abhängig sein von einem Gesundheitssystem, wo die Politik bestimmt, was gesund ist und was nicht. Auch hier gilt, wenn wir den Weg nicht aus dem Ziel heraus gestalten, sondern diesen Weg gehen, dann bestimmt der Weg das Ziel. An dieser Stelle, weil es eine existenzielle Frage ist, wird Spaltung und Machteinsatz in unserer Demokratie deutlich werden, ist weckend und hoffentlich nicht zu spät. Auch hier muss man auf die Kräfte schauen, die wirken. Wenn die Menschen sich anmaßen zu entscheiden, wer eintreten darf in dieses Leben, dann werden sie sich das auch anmaßen zu der Entscheidung, wer muss austreten aus diesem Leben.

Alles was wir erleben, hat einen Weg. Die Forderung nach Achtsamkeit und prozessualem Denken haben ihre Berechtigung und das merken wir und betonen das. Damit haben wir noch nicht die Wachsamkeit erreicht, um unser Werden bewusst in die Hand zu nehmen. Dass der Weg das Ziel ist, oder das tatsächliche Ziel wird, oder vielmehr das Ziel ersetzt wird, durch das, was Konsequenz des Weges ist:  dass ist eine Lehre, die wir jetzt annehmen müssen, wenn wir unsere Entwicklung nicht ganz verfehlen wollen. Der Satz von Sloterdijk „Es ist die Massenfrivolität unserer Zeit, ankommen zu wollen, ohne den Weg gegangen zu sein“ kann ergänzt werden durch „Wachet auf dem Weg damit ihr wisst, wo ihr ankommt, was ihr werdet“.

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ZUR PERSON

Wolfgang Gutberlet

der „Ökomanager des Jahres 2005" wurde 1944 in Fulda geboren. Nach dem BWL-Studium trat er 1970 in das väterliche Unternehmen „tegut..." ein, das er bis 2009 leitete. Es war sein persönliches Anliegen, die Menschen mit gesunden und nachhaltig produzierten Lebensmitteln zu versorgen. Mit der Übergabe des „tegut..."-Handels an die „Migros" 2013 wurde Wolfgang Gutberlet Vorsitzender des Aufsichtsrates der W-E-G Stiftung und Gesellschafter der W-E-G GmbH & Co. KG mit Sitz in Fulda. Wolfgang Gutberlet wurde mehrmals ausgezeichnet, u.a. als Entrepreneur des Jahres 2007, und 2008 mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis.